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ethikCafé: Was sagen uns verordnete Einschränkungen?

In der Schweiz ist es ruhiger geworden, doch die Corona-Krise hält nach wie vor die Welt in Atem. Es wird kontrovers diskutiert, wie man der Pandemie am besten begegnen kann, speziell im Hinblick auf eine zweite Welle. Gleichzeitig sind nicht alle gleich stark von den Massnahmen betroffen. Wie Geschickte und Soziologie zeigen, sind Einschränkungen sowohl Teil der Gesundheits- wie auch Ausdruck von Machtpolitik. Vor- und Nachteile erleben auch die jugendlichen Teilnehmenden am «ethikCafé».


Welches sind die geeigneten Massnahmen und wie sehr darf man die bürgerlichen Freiheiten zur Pandemiebekämpfung einschränken? Wer wird denn auf welche Art eingeschränkt?


Das «ethikCafé» vom 20. Mai half allen Jugendlichen sowie den Organisatoren in dieser beunruhigenden Zeit etwas Orientierung zu gewinnen.


Geschichte von Einschränkungen in der Schweiz

Als erstes ist es wichtig, den historischen und philosophischen Kontext der aktuellen Massnahmen zu sehen. Der Bundesrat regiert seit dem 16. März per Notrecht. Ein solcher Rückgriff auf das Notrecht ist an sich nichts Spezielles.

Der Bundesrat hat in den letzten Jahren mehrfach mit Verweis auf das Notrecht situative Entscheidungen getroffen. Er hat aber erst einmal über längere Zeit per Notrecht regiert, nämlich während der Zeit des Zweiten Weltkriegs. Damals wurden die Notrechtskompetenzen des Bundesrats zu einer reellen Gefahr für die Demokratie. Die Einschränkung der bürgerlichen Freiheiten war damals aber deutlich stärker als heute. Trotzdem bezweifeln viele Experten, dass im Falle einer zweiten Corona-Welle ein zweiter Lockdown durchführbar wäre. Sie erwarten, dass der Widerstand in der Bevölkerung zu gross wäre.


Einschränkungen bei Seuchen als Ausdruck von Macht

Es gibt verschiedene Ausdrucksformen von Macht. Sie zeigen sich auch darin, wie Gesellschaften mit dem Abnormalen, den Geisteskranken, den Kriminellen etc., umgehen – und eben mit einer Seuche. Dies lässt sich durch die Geschichte hindurch beobachten.

Mit Leprakranken wurde damals ähnlich umgegangen wie mit Kriminellen und Geisteskranken: sie wurden einfach eingesperrt. Auch die Massnahmen gegen die Pest waren verankert in der damaligen Art und Weise des Regierens zur Aufrechterhaltung der allgemeinen Ordnung: Überwachung und Disziplinierung. Die gleichen Parallelen sehen wir auch bei Corona. Europa geht anders mit Corona um als China. Es wird viel Rücksicht auf die Wirtschaft und die Bevölkerung genommen, und man arbeitet eher mit Aufklärung als

mit Zwang. Man kann aber auch beobachten, dass das Fehlen von Wissen oder der Verlust von Kontrolle dazu führen, dass auch in demokratischen Staaten auf harschere Massnahmen wie Ausgangssperren zurückgegriffen wird.



Einschränkungen als Verunsicherung und Neuanfänge

Wie reagieren Menschen und vor allem jüngere Menschen auf die Corona- Krise? Einige Antworten aus der ethikCafé Diskussion mit Jugendlichen vom 20. Mai 2020:


Eine Maturandin war enttäuscht, dass die Maturaprüfungen abgesagt worden waren. Schliesslich hatte sie viel gelernt und hätte dies auch gerne gezeigt.

Eine Psychologiestudentin berichtete von der Verunsicherung, weil man keine Ahnung hat, wie sich die Situation weiterentwickeln wird. Auch andere äusserten Verunsicherung angesichts der ungewohnten Situation.


Ein Lehrer erzählte, dass die Schüler aus ärmeren Haushalten in der Zeit des Homeschoolings stärker abgehängt wurden und sich die Schere zwischen den Schülern weiter aufgetan hat. Auch die Lebenssituation der Flüchtlinge macht ihm Sorgen.


Ein IT-Spezialist sowie andere Teilnehmer haben die Zeit während des Lockdowns genutzt, um zuhause einen Gemüsegarten anzulegen.

Der Garten eines Teilnehmers der ethikCafé Diskussion


Einschränkungen als Chance – neue Freiheiten

Die Zeit des Lockdowns hat auch Entspannung gebracht. Viele Schweizerinnen haben ein komfortables Zuhause und es gab keine Ausgangssperre. Man konnte also immer in die Natur gehen und die frische Luft geniessen. Die Schweiz hatte Anfangs eine steile Infektionskurve, doch die Pandemie konnte gut unter Kontrolle gebracht werden. Im Vergleich zu anderen Ländern konnten so viele Leben gerettet werden und wir können auch früher wieder mit Lockerungen beginnen.

 

«Während des Heimunterrichts sah ich zum ersten Mal, was meine Mutter alles macht, wenn ich in der Schule bin. Ich wusste nie recht, ob ich jetzt für die Schule arbeiten soll oder lieber meiner Mutter bei der Hausarbeit helfen.»


Jugendlicher Teilnehmer der ethikCafé Diskussion

 

Einschränkungen als existentielles Problem

Obdachlose haben kein Zuhause, in das sie sich zurückziehen können, und in den leeren Strassen hat es ihnen am allernötigsten gefehlt. Arme Familien wurden von den Einkommenseinbussen schwer getroffen. Die Schweiz und die EU haben während der Corona-Krise das Recht auf Asyl stark eingeschränkt. Flüchtlinge werden an der Grenze einfach abgewiesen, ohne dass ihnen ein Asylverfahren gewährt würde. Auf diese Weise wird die Krise vor allem von jenen Schultern getragen, die ohnehin schon schwer belastet sind. In der christlichen Sozialethik plädieren wir dafür, dass Lasten so verteilt werden, dass jene die Hauptlast tragen, die dies auch vermögen. Hier sind der Staat und die Zivilgesellschaft gleichermassen gefordert.

 

Die Gruppe zum Thema «Randgruppen – der Lockdown als existentielles Problem» diskutierte, wie sich der Lockdown auf Menschen am Rande der Gesellschaft auswirkt. Die meisten Teilnehmer gehörten zu jenem Teil der Bevölkerung, der über mehr Ressourcen verfügt, und doch haben auch diese gespürt, dass sich die Schere zu jenen, die weniger haben, weiter aufgetan hat.


Aus der ethikCafé Diskussion

 

Einschränkung durch Technologie

Viele Menschen sind besorgt über die künftigen technischen Massnahmen zur Verhinderung der Ausbreitung des Corona-Virus. Der IT-Spezialist Lukas erklärte, dass die Tracing App, die momentan von der ETH Lausanne und der ETH-Zürich entwickelt wird,


Ein Grenzzaun an der EU-Aussengrenze


keinerlei Daten über die Nutzer sammelt. Es werden lediglich nichtssagende Codes zwischen den Geräten ausgetauscht, damit man wissen kann, wer mehr als 15 Minuten in der Nähe voneinander war. Diese Daten bleiben auf dem Gerät und werden nur auf einen Server geladen, wenn man sich mit Corona infiziert. Wenn ich eine Meldung erhalte, dass ich mich in der Nähe einer infizierten Person aufgehalten hatte, wird ausser mir niemand benachrichtigt. Es liegt in mein-

er eigenen Verantwortung zu reagieren und niemand kann mich zu etwas zwingen. Die Daten werden also nicht in irgendeiner externen Datenbank gesammelt, sondern nur auf dem eigenen Gerät gespeichert.




Gemeinsam finden wir Perspektive

Die Massnahmen des Bundes waren durchaus einschränkend. Die meisten Menschen in der Schweiz waren aber gut versorgt.


Die Massnahmen haben vor allem jene stark getroffen, die es bereits vor der Krise schon schwer hatten – Schüler aus bildungsfernen Haushalten, arme Familien, Flüchtlinge, Obdachlose u.a.

In Zukunft ist es wichtig, dass wir Sorge tragen und die Schere wieder schliessen, die sich während der Krise weiter öffnete.

 

«Die Flüchtlinge haben keinen Zugang zu sanitären Anlagen und können darum Hygienemassnahmen nicht umsetzen. Auch sind ihre Unterkünfte zu eng, um Abstand halten zu können.»


Yannick, Lehrer in Fribourg

 

Wir dürfen Räume schaffen, die uns erlauben, gesellschaftliche Prozesse kritisch zu beleuchten sowie sozialethische Orientierung und gemeinsam Handlungsmöglichkeiten zu suchen.

Zusammen finden wir Perspektiven.

Im ethikCafé vom 20. Mai fanden die meisten Teilnehmenden die verordneten Massnahmen trotz der Verunsicherung leicht umsetzbar und sie stellten fest, dass sie sogar einen gewissen Wert, ja sogar Vorteile hatten. Gleichwohl waren sich alle einig, dass es deshalb umso wichtiger ist, an jene zu denken, denen die Pandemie und die Massnahmen grosse existenzielle Probleme bereiten.


Das ethikCafé half allen Jugendlichen sowie den Organisatoren in dieser beunruhigenden Zeit etwas Orientierung und einen Blick auf die Benachteiligten zu gewinnen.





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